Interview: Die Endo-App auf Rezept

mit Dr. med. Nadine Rohloff, medizinische Leiterin der Endometriose App und Geschäftsführerin von Endo Health

Im Durchschnitt leidet jede zehnte Frau an Endometriose, einer Krankheit, die neben einer Vielzahl von Symptomen auch starke Schmerzen verursachen kann. Obwohl das Thema zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt, ranken sich immer noch viele Mythen um die Krankheit. Aussagen wie „Schmerzen gehören nun einmal zum Frausein dazu" tragen dazu bei, dass Betroffenen häufig nicht geglaubt wird und eine Diagnose viele Jahre dauern kann. Dr. med. Nadine Rohloff will dieses Narrativ durchbrechen und hat zu diesem Zweck die Endometriose-App entwickelt, deren Kosten seit kurzem von allen gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland übernommen werden.

Herzlichen Dank, Nadine, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Du bist derzeit als medizinische und wissenschaftliche Leitung bei der Endometriose App tätig. Kannst du kurz erläutern, wie du zu dem Thema Endometriose gekommen bist und wie die Endometriose App entstanden ist?

© Dr. med. Nadine Rohloff

Das Thema Endometriose ist mir zum ersten Mal in meinem Humanmedizinstudium an der Universität Münster begegnet. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich dann bis 2018 im Endometriosezentrum im Frauenklinikum der Uniklinik Münster gearbeitet. Dort habe ich tagtäglich mit Betroffenen zusammengearbeitet und mir sind immer wieder die Schwierigkeiten der Diagnosefindung und der individuellen Therapie aufgefallen. 

Eine wichtige Erkenntnis war, dass ein gutes Selbstmanagement und ein multimodaler Therapieansatz grundlegende Säulen in der Therapie der Endometriose sind, aber bisher in der Praxis nicht weitreichend umgesetzt werden. 

Da die Ursache aktuell noch nicht bekannt ist, gibt es auch keine am Ursprung angreifende Therapie. Endometriose verläuft daher häufig chronisch und belastet über eine lange Zeit. Deshalb ist es wichtig, dass die Betroffenen bestmöglich über Ihre Erkrankung informiert werden, um den Leidensdruck zu vermindern und an Lebensqualität zurückzugewinnen. Meine Vision war es dann, so viel Unterstützung wie möglich so vielen Betroffenen wie möglich zur Verfügung zu stellen! Daher sehen wir unsere Aufgabe ganz klar bei der digitalen Unterstützung der Endometriose-Versorgung. Die ersten Schritte sind da die Webseite und die Endo-App, über die wir verlässliche Inhalte und Hilfe beim Selbstmanagement zur Verfügung stellen!

Die Endo- App hat sich zum Ziel gemacht die Patient:innen zu unterstützen, zu informieren und ihnen zu helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Sie ist nun kostenlos über die gesetzlichen Krankenkassen als 'App-auf-Rezept' verfügbar.

Die Endometriose ist eine komplexe Erkrankung, so viel weiß ich. Kannst du kurz zusammenfassen, was genau Endometriose ist und weshalb sie für Betroffene so belastend sein kann?

Die Endometriose ist eine weit verbreitete chronische Erkrankung, bei der gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe außerhalb der Gebärmutter wächst. Das kann mit sehr starken Beschwerden verbunden sein und diverse Komplikationen verursachen. Durch Nervenreizung und Entzündungsfaktoren verursachen die Herde starke Schmerzen und eine Vielzahl von Symptomen von Darmproblemen über Fatigue und Blasenbeschwerden.

 

Die Ausprägung variiert individuell und präsentiert sich daher vielfältig. Meist korreliert die Symptomatik nicht mit dem Ausmaß der Erkrankung. Sie kann auch gänzlich ohne Beschwerden auftreten, was die Diagnosefindung zu keiner leichten Aufgabe macht. Die Ursache für die Entstehung ist bis heute nicht abschließend geklärt.

 

Die Belastungen, die mit der Erkrankung einher gehen, können gravierend sein. Bis die Endometriose endgültig diagnostiziert ist, vergehen aktuell bis zu zehn Jahre. Vielen Betroffenen fällt es schwer ihre Beschwerden richtig einzuordnen, weswegen sie unter Ungewissheiten leiden. Eine der größten Einschränkungen sind die mit der Periode wiederkehrenden Schmerzen. Im fortgeschrittenen Stadium können diese auch unabhängig von der Periode auftreten. Lange andauernder Schmerz verändert die Struktur und Funktionsweise im Nervensystem. Dies führt langfristig zu einer chronischen Schmerzerkrankung und einer Schmerzempfindung, die unabhängig von einem Schmerzreiz stattfindet.

 

Diese neurologische und emotionale Komponente wirkt sich natürlich auf die allgemeine Lebensqualität aus. Vielen Betroffenen fällt es an schmerzhaften Tagen schwer das Haus zu verlassen, in manchen Fällen kann der alltäglichen Arbeit nicht mehr nachgegangen werden, was zu finanziellen Problemen bis schließlich zur Arbeitslosigkeit führen kann. Es kann eine Abwärtsspirale aus Hoffnungslosigkeit, Depression und Angst folgen. Aber auch mangelnde Anerkennung durch das Umfeld ist ein großes Problem.

 

All das sind aber auch Punkte, an denen das Gesundheitssystem frühzeitig Unterstützung bieten könnte und meiner Meinung nach auch müsste. Eine weitere besondere Situation stellt der unerfüllte Kinderwunsch dar. Zirka 30-50% der betroffenen Patient:innen leiden unter Fruchtbarkeitsproblemen. Die Endometrioseherde können zu Zyklusstörungen, Verklebungen, Entzündungen und einer Schädigung des Ovars führen. Nach weiterführender Untersuchung steckt oft die Endometriose dahinter und wird nicht selten dadurch erstmalig diagnostiziert.

Die Endometrioseherde können auch umliegende Organe infiltrieren. Häufig sind das Bauchfell, der Magen-Darmtrakt sowie die Blase und die Harnleiter betroffen. Zu den Symptomen zählen Schmerzen beim Stuhlgang oder dem Wasserlassen, Blähungen („Endo-Belly“), rektale Blutungen, Übelkeit, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und noch mehr.

Welche Funktionen hat die App und was möchtest du Betroffenen mit auf den Weg geben?

Die Endometriose App hat das Ziel die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern und sie in Ihrer Gesundheit auf interdisziplinärem Wege zu unterstützen. Sie sind mit der Erkrankung nicht allein und es ist wichtig den Mut nicht zu verlieren. Die Krankheit zu verstehen und bestmöglich darüber Bescheid zu wissen ist wesentlich für eine erfolgreiche Behandlung. Die Endo-App hat es sich zur Aufgabe gemacht ausführlich und evidenzbasiert über die Krankheit zu informieren, sodass auf dieser Basis ein individuell angepasstes Selbstmanagement mit in die Therapie implementiert werden kann.

Es wird ermöglicht, dass die Frauen ihre Symptome und ihre Aktivitäten und Behandlungen schnell und zuverlässig tracken können. Dadurch erhalten sie eine tiefere Einsicht in ihr Befinden sowie eine bessere Körperwahrnehmung. Es können Zusammenhänge zwischen Aktivitäten und Verbesserung oder Verschlimmerung der Symptome identifiziert werden. Dies stärkt das Bewusstsein und verbessert die Lebensqualität.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Anleitung beim Selbstmanagement mit ausführlichen Kursen und direkt anwendbaren Übungen. Und natürlich weisen wir auch den Weg durch das Gesundheitssystem. Der ganzheitliche Ansatz der Therapie im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie ist in der App ausführlich aufgeführt und illustriert umfassend die unterschiedlichen Behandlungsansätze, die die Lebensqualität der Betroffenen steigern können. 

Es handelt sich um zum Beispiel medizinische, ernährungsphysiologische, psychologische und physiotherapeutische Möglichkeiten. Die App hilft den Betroffenen die Erkrankung besser zu verstehen. Sie ermöglicht die Dokumentation von Schmerzen und Blutungen in Form eines individuellen Symptom-Tagebuchs. Außerdem beinhaltet sie umfangreiche Lern-Module sowie angeleitete Übungen rund um das Thema Endometriose.

 © Endo Health GmbH

Langfristig helfen die Daten zur Erforschung von weiteren Therapieoptionen. Da die endgültige Diagnose der Endometriose ärztlich gestellt werden kann und häufig einen operativen Eingriff erfordert, sollten sich die Betroffenen immer an ein Endometriosezentrum oder eine erfahrene Ärztin oder Arzt wenden. Informationen darüber finden sich auf der Website. Das sind zum einen zertifizierte Endometriosezentren und zum anderen lokale Frauenärzt:innen, die sich mit der Erkrankung auskennen. In Kombination mit einem guten Wissensstand auf Patient:innenseite kann das Bestmögliche aus den Arztterminen rausgeholt werden.

Die Endo-App ist nun als digitale Gesundheitsanwendung („DiGa”) zertifiziert. Damit werden die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen - die Endo-App gibt es also auf Rezept. War dies von Anfang an geplant, und wenn ja, warum war dir das wichtig?

Uns war es wichtig die App über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen zu lassen, um den Zugang für alle Betroffenen so barrierefrei wie möglich zu gestalten. Dabei haben wir sowohl den DiGA-Pfad als auch den direkten Kontakt mit Krankenkassen gesucht, um so schnell wie möglich so viele Betroffene zu erreichen. Mit dem Ziel: „Die Endo-App für alle“.

Für viele Endometriose-Patient:innen fallen bereits schon hohe Kosten für das Selbstmanagement an, die wir mit der Endo-App nicht noch potenzieren wollten. Ganz im Gegenteil, die Endo-App soll kostenfrei für die Nutzer:innen bleiben.

Die Symptome der Endometriose können sich durch alle Lebensbereiche ziehen, und oft stoßen Betroffene auch bei der Arbeit auf Schwierigkeiten. Womit haben Betroffene deiner Erfahrung nach am Arbeitsplatz besonders zu kämpfen? 

Aus dem Grund, dass die Endometriose noch keine weitreichende Aufmerksamkeit erfährt, fällt es den Betroffenen meist schwer, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Am Arbeitsplatz gibt es einige Herausforderungen für Patient:innen, die für nicht Betroffene im ersten Moment gar nicht so ersichtlich erscheinen.

 

Da Schmerzen ein ständiger Begleiter sind und dadurch die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann, ist es wichtig, dass für die Betroffenen das richtige Arbeitsklima geschaffen wird. Jede Patient:in reagiert unterschiedlich auf die Schmerzen, weshalb optimale Arbeitsbedingungen in jedem Fall Individuell angepasst werden müssen. Das kann auf der einen Seite Liegemöglichkeiten- und auf der anderen Seite Bewegung, Sport oder ähnliches umfassen. Dies ist am Arbeitsplatz meist schwer realisierbar.

 

Außerdem kann die Endometriose auch den Magen-Darmtrakt sowie den Uro-Genitaltrakt betreffen. Deshalb ist es wichtig, dass eine Toilette in unmittelbarer Nähe aufzufinden ist. Eine Möglichkeit, die den Betroffenen sehr helfen würde, wäre die Option von Zuhause aus zu arbeiten. Die Patient:innen können so selbstbestimmt und optimal ihre Beschwerden im Arbeitsalltag anpassen und so am besten ihre Arbeit und die Erkrankung aufeinander abstimmen. Auch eine Absprache über die Verringerung der Wochenarbeitszeit durch den Arbeitgeber wäre eine weitere Möglichkeit die Betroffenen zu entlasten.

Worauf sollten Arbeitgeber*innen und Personalverantwortliche achten, wenn Mitarbeitende ihnen offenbaren, dass sie an Endometriose leiden?

Neben den rein körperlichen Symptomen spielt auch die psychische Belastung durch die Endometriose eine große Rolle im Arbeitsleben. Nicht selten erleben Betroffene Unverständnis und Verwunderung. Durch die Einschränkung der Leistungsfähigkeit und die Angst um einen sicheren Arbeitsplatz macht sich großer Kummer breit. Hinzu kommt ein erhöhtes Stresslevel, was die Krankheit im Umkehrschluss wieder negativ beeinflusst.

Dieser Teufelskreis kann durch aktives Zuhören, eine gute Kommunikation, selbstständiges informieren über die Erkrankung sowie eine gemeinsame Lösungsfindung durchbrochen werden. Grundsätzlich wäre eine interne Ansprechperson im Arbeitsumfeld sinnvoll, an die sich die Mitarbeitende wenden können, wenn sie negative Erfahrungen am Arbeitsplatz erleben. Positiver Zuspruch stellt eine große Entlastung für die Betroffenen dar, da ein verständnisvolles, zugewandtes Arbeitsumfeld motiviert und sie keine Angst haben müssen, nicht ernstgenommen zu werden.

Endometriose-Betroffene und auch Betroffene chronischer Erkrankungen sind eine riesige Bereicherung für jeden Arbeitsplatz. Das ist, finde ich, eine wichtige Information, die sich alle Arbeitgeber da draußen vor Augen halten sollten. Meistens sind die Betroffenen wahnsinnig engagierte Menschen, die mit ein bisschen Flexibilität am Arbeitsplatz großartige Arbeit leisten, Teams führen und einen großen Beitrag leisten können und das mindestens genauso gut wie Nicht-Betroffene.

Mehr Infos zu der App gibt es hier: https://diga.endometriose.app/